Sonntag, 18. Dezember 2011

GENF: La tradition de l'Escalade ODER Gemüsesuppe für alle

Es ist Dezember und Genf steht Kopf. Doch nicht weil es weihnachtet, sondern weil es Zeit ist für l'Escalade.
Das jährlich stattfindende Fest erinnert an die erfolgreiche Verteidigung der Stadt Genf gegen Karl Emanuel von Savoyen in der Nacht vom 11. zum 12. Dezember 1602. Zwar hatten die Savoyardischen Soldaten bereits die Stadtmauern überwunden, doch wurden sie - der Legende nach - von einer kämpferischen Einwohnerin namens Mère Royaume mit kochend heißer Gemüsesuppe übergossen und so letztendlich doch noch vertrieben.

Bereits am Wochenende vor dem eigentlichen Abend beginnen die Festlichkeiten mit der Course de l'Escalade. Ein Lauf, bei dem die Teilnehmer, je nach Kategorie, zwischen 2 und 8 Kilometern durch die Altstadt rennen. Die komplette Genfer Innenstadt ist gesperrt. Riesige Tribünen, meterhohe Leinwände und unzählige Essensstände sind im Parc des Bastions (gleich neben den Indignés von letzter Woche) aufgebaut worden. 


Parc des Bastions während der Course de l'Escalade

Place Neuve im Stadtzentrum mit dem Opernhaus im Hintergrund

Schon am späten Vormittag scheint die ganze Stadt auf den Beinen, denn eines der Highlights ist der früh stattfindene Lauf aller Genfer Schulen. Alle paar Minuten hört man den lauten Startschuss, wenn sich die nächste Gruppe auf den Parcour begeben hat. Unter lautem Jubel und den Anfeuerungsrufen des Kommentators, dessen Stimme aus den großen Lautsprecher hallt, kommen die kleinen Läufer schließlich im Ziel an. Zwar sieht man erstaunlich viele der Kleinen am Rand bitterlichst weinen, aber das sind hoffentlich nur kurzfristig enttäuschte Läuferträume. Am späten Nachmittag gibt es dann noch einen 3 Kilometer-Lauf, bei dem sich alle Läufer, große und kleine, möglichst kreativ verkleiden müssen. Insgesamt sind es in diesem Jahr fast 25 000 Teilnehmer gewesen!
Übrigens hat man wohl herausgefunden, dass die "Course de l'Escalade" wesentlich mehr für die Gesundheit und Fitness der Genfer tut als alle subventionierten Sportprojekte der Schweizer Regierung zusammen.  

Damit nach dem Lauf auch kein Kind verloren geht, werden die Kinder ihrem Namen entsprechend zugeordnet :-)
Eine Woche später geht es bereits am Freitag wieder los. Die Genfer Oberschüler starten ins Wochenende, in dem sie sich auf dem Weg zwischen Schule und der Innenstadt mit Rasierschaum, Eiern und Mehl bewerfen ... was genau das mit der Escalade zu tun hat, konnte mir allerdings niemand so richtig erklären.
Am Sonntag Nachmittag dann endlich der Höhepunkt: die große Parade. Über drei Stunden zieht ein Umzug mit mittelalterlich gekleideten Menschen, mehreren Pferden, alten Kriegsgeräten und kleinen Blaskapellen durch die Stadt. In der Altstadt verkaufen die Restaurantbetreiber Glühwein, Crèpe und natürlich die obligatorische Gemüsesuppe von Mutter Royaume an provisorisch aufgebauten Ständen. 

Ohne Anstehen geht an diesem Nachmittag gar nichts
Der Platz vor St. Pierre ist überfüllt mit Leuten und jeder scheint heute einmal froh darüber, dass es nicht so kalt ist wie in den vergangenen Jahren. Nachdem einer der Reiter die Geschichte der l'Escalade noch einmal vorgetragen und die Menge die inoffizielle Hymne des Kantons Genf "Cé qu'è lainô" gesungen hat (siehe Video unten), endet das Highlight im Genfer Veranstaltungskalender mit einem großen Feuer, viel Gesang und noch mehr Glühwein.




P.S.: Weitere Tradition der l'Escalde ist das Zerschlagen der Marmite (dt.: Kochtopf) aus Schokolade - das natürlich auch an die Bedeutung der Suppe erinnert. Schon Wochen vor dem Fest sind die Schaufenster der zahlreichen Chocolatiers voll mit den süßen Gefäßen


Die Schoko-Töpfe gibt es in den unterschiedlichsten Größen, die ganz Großen (leider nicht auf diesem Bild) sind bis zu 50 cm hoch und kosten weit über 100 Franken

Traditionell müssen der/die Älteste und der/die Jüngste aller Anwesenden mit den Worten "Ainsi périssent les ennemis de la république" (dt.: "So kommen die Feinde der Republik um") die Marmite gemeinsam zerschlagen ...

... so auch geschehen in meiner WG :-)

Dienstag, 13. Dezember 2011

KURZ&KNAPP - Der Film "The Whistleblower"

Manchmal geht es auch ein wenig kürzer ... ob Beobachtungen, Wissenswertes oder Empfehlungen. All das gibt es in Zukunft unter der Rubrik KURZ&KNAPP.

Bosnien, 1999: Während ihrer Zeit in der International Police Task Force deckt die amerikanische Polizistin Kathryn Bolkovac einen unglaublichen Fall von Menschenhandel auf. Auch UN- Soldaten sind darin verstrickt. Doch aus Angst vor einem Skandal wird werden die Hinweisen der Polizistin ignoriert. 

Gerade in einer Stadt wie Genf, wo sich an jeder Ecke internationale Organisationen und NGOs befinden, sollte die Arbeit und der Nutzen solcher Vereine manchmal kritisch beleuchtet werden - so passiert am vergangenen Samstag, dem offiziellen Tag der Menschenrechte, während einer Vorführung von "The Whistleblower" und der anschließenden Diskussionsrunde mit der echten Kathryn Bolkovac. Wie sie berichtete, ist bis heute keiner der Schuldigen zur Rechenschaft gezogen worden, denn UN- Soldaten genießen juristische Immunität.

Ein Film im Spannungsfeld zwischen notwendiger Intervention, moralischer Verantwortung und der Scheinheiligkeit eines ganzen Systems. Ein Film für den man starke Nerven braucht, der einen am Wesen des Menschen zweifeln lässt und der doch gerade deshalb besonders sehenswert ist.  





Freitag, 9. Dezember 2011

GENF: Un vieux sage ODER die Empörung der Jugend

Indignez-vous! Empört Euch! Cry Out!
Egal in welcher Sprache, der Inhalt bleibt der gleiche und die Botschaft kommt an.

Der Titel seines Essays "Indignez-vous", in dem er sich gegen Finanzkapitalismus und für Pazifismus ausspricht, hat Stéphane Hessel im letzten Jahr zur Leitfigur einer ganzen Bewegung werden lassen. Mit dem Aufruf an die junge Generation sich endlich zu erheben und das kollabierende Gesellschaftssystem nicht länger hinzunehmen hat der 94-Jährige mitten in der Finanz- und Eurokrise den Nerv der Zeit getroffen. Ob bei den Indignados auf der Plaza del Sol in Madrid oder bei den Occupy-Protesten in New York, London und Paris - Hessels Leitspruch oder zumindest seine inhaltliche Botschaft ist überall.

Demonstranten in Paris ...
Quelle: http://roarmag.org/wp-content/uploads/2011/05/Indignez-vous-Bastille-2.jpg 


... und in Madrid 
Quelle: http://roarmag.org/wp-content/uploads/2011/05/Indignate1.jpg

Hessels Terminkalender ist zur Zeit ausgebucht. Jeder möchte mit dem weisen Mann, der in Berlin geboren wurde und später in der französischen Résistance gegen die Deutschen kämpfte, über die Weltlage diskutieren dürfen. Am Nikolausabend in der vergangenen Woche ist er nun an der Université de Genève gewesen.


Stéphane Hessel (vorne ganz links) an der Université de Genève

Das Auditorium ist bis auf den letzten Platz besetzt, das Publikum gemischt. Junge und Ältere, Männer und Frauen. Als Hessel den Saal betritt, geht ein Raunen durch die Reihen. Freundlich in die Runde blickend schreitet er etwas wackelig die Treppe hinunter. Eigentlich geht es heute Abend um die Bestrafung von internationalen Verbrechen vor nationalen Gerichten, doch es scheint, als warten alle nur darauf, dass er etwas zur Finanzkrise sagt. Den Gefallen tut Hessel dem Publikum an diesem Abend jedoch nicht. Er spricht über die UN-Charta der Menschenrechte, die er 1948 als Sekretär der UN-Menschenrechtskommission mitgestaltet hat, und über die gesellschaftliche Verantwortung diese zu verteidigen. Sein Französisch ist klar und deutlich, seine Sätze sind perfekt strukturiert und durchdacht und dabei spricht er komplett ohne Notizen. Nach wenigen Minuten erheben sich die ersten von ihren Sitzen, um diesem kleinen etwas zerbrechlich wirkenden Mann klatschend Tribut zu zollen.

Der Aufruf kommt an

Nur einen Kilometer Luftlinie vom Uni-Gebäude entfernt hat die Gruppe "Occupy Geneva" im Parc des Bastions seine - im wahrsten Sinne des Wortes - Zelte aufgeschlagen. Die Formierung "eines alternativen Systems basierend auf den menschlichen Grundwerten" haben sie sich zur Aufgabe gemacht, wie in ihrer, sehr professionell gestalteten, Broschüre zu lesen ist.


Broschüre der "Occupy-Geneva" Bewegung

Nachdem das Camp die ersten Wochen eher nach einer Ansammlung von Obdachlosenunterkünften aussah, scheint es mittlerweile sehr organisiert. Eine Tafel kündigt die täglichen Veranstaltungen an, es gibt einen Informationsstand und auch am Stadtleben wird sich beteiligt. Am letzten Samstag wurde zum Beispiel während eines Stadtlaufes, dem Course d'Escalade -  mehr dazu in der nächsten Woche - kostenlos Suppe verteilt. Außerdem gibt es jeden Tag um 20.00 Uhr ein Treffen im großen Zelt.
(Anm.d.Red.: Aber Ausnahmen bestätigen die Regel, denn als ich heute Abend daran teilnehmen wollte, um Euch Genaueres zu berichten, fand das Treffen ausgerechnet heute nicht statt.)

Im großen Zelt finden die regelmäßigen Zusammenkünfte statt


Informationsstand und Suppenküche

Am Abend vor seinem Vortrag an der Uni Genf ist auch Stéphane Hessel bei den "Empörten" im Parc des Bastions gewesen und hat empfohlen, vor allem einen engen Kontakt mit den Occupy-Bewegungen in den anderen Städten zu halten, um gemeinsam die gesetzten Ziele zu erreichen. 
Einen Rat, den die Genfer Aktivisten bei der Autorität und Weisheit, die dieser Mann in seinem hohen Alter ausstrahlt, sicherlich beherzigen werden.

Stéphane Hessel am 5. Dezember 2011 bei "Occupy Geneva"
Quelle: http://www.occupygeneva.ch/rencontre-avec-hessel-5-decembre#more-4286